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Die mathematische Denkweise bei Fritz Haller (1)

von Hans Frei



1 Was ist mit mathematischer Denkweise gemeint?

In den 1930er Jahren entdeckte Max Bill im Soge von Man Ray und Marcel Duchamp die mathematischen Holz-, Gips und Drahtmodelle im Institut Henri Poincaré in Paris. Doch es war nicht etwa die exakte Mathematik, die ihn an diesen Modellen so sehr interessierte, als vielmehr die Möglichkeit, in ihnen Ready Mades von Kunstwerken zu sehen. Wie er einige Jahre später in Die mathematische Denkweise in der Kunst unserer Zeit darlegte, sei ein mathematisches Modell genauso wie ein Kunstwerk ein "Form gewordener Gedanke". In beiden Fällen werde "das Verhalten von Ding zu Ding, von Gruppe zu Gruppe, von Bewegung zu Bewegung" durch "die Anwendung logischer Gedankengänge" bestimmt. Aus diesem Grunde bezeichnete er die Kunst wie die Mathematik als eine "Wissenschaft der Verhältnisse. Je mehr die Kunst "im Einklang mit der Methode des mathematischen Denkens" stehe, desto mehr werde sie zu einer Form des Denkens, das auf Beziehungen zwischen formalen Elementen statt zwischen Zahlen respektive Buchstaben beruhe.(2)

Bei dieser Argumentation konnte sich Bill wahrscheinlich auf den in Zürich lehrenden Mathematiker Paul Speiser beziehen, der 1932 das Buch Die mathematische Denkweise publiziert hatte.(3) Auch Speiser hebt die enge Verwandtschaft der Mathematik mit der Kunst hervor und begründet dies damit, dass beide einer inneren Wirklichkeit Gestalt geben würden, während die Naturwissenschaften sich ja bloss mit Wirkungen auf Dinge befassten.

Als ein schönes Beispiel für die mathematische Konkretisierung eines Gedankens erwähnt Speiser den Beweis, dass die Summe der Innenwinkel α, β und γ in jedem beliebigen ebenen Dreieck 180 Grad beträgt. Man brauche dazu nur eine Parallele zur Basis durch die Spitze des Dreiecks zu ziehen, um dann auf Grund des Axioms der Wechselwinkel ein für allemal zu zeigen, dass der Winkelsummensatzes im Dreieck wahr sei.(4)

Abbildung 1:   α + β + γ = α'+ β' + γ (Wechselwinkelsatz) = 180°


Bezeichnenderweise aber kann die Konstruktion der Parallele selbst nicht logisch hergeleitet werden. Diese kommt überhaupt nur auf Grund einer intuitiven Ahnung ins Spiel, die einen Mechanismus logischer Folgerungen auslöst, die schliesslich unweigerlich zum Beweis führen.

Mit der mathematischen Denkweise meinte Speiser also weniger ein genaues Rechnen als vielmehr ein Denken, das überhaupt erst die Grundlagen für Berechnungen liefert. Zahlen sind eben ausser zum Zählen und Berechnen auch gut, um Wege zu finden, Dinge mit Dingen zu verbinden, die bisher nichts miteinander zu tun hatten.(5) Sie zwingen einen einerseits, präzise zu rechnen, andererseits öffnen sie immer auch Türen zu noch unbekannten Möglichkeiten.(6)

Gerade wegen des immensen Erfolges, den die Mathematik heute in den Natur- und Informationswissenschaften hat, beharren viele Mathematiker umso mehr auf der Unterscheidung von Rechnen (angewandter Mathematik) und mathematischer Denkweise. Zwar wird auch das Rechnen für die Mathematiker durch Computer enorm erleichtert, doch Cédric Villani, der Fields-Medaillen Gewinner von 2010, ist überzeugt, dass selbst wenn dereinst ein mathematischen Beweis "von der Maschine zu 99,8% ergänzt wird", es "doch die 0.2% (sind), die zählen".(7)

Was nun aber ist die Relevanz dieser Unterscheidung für die Architektur? Im Grunde genommen gibt es keine Architektur ohne Mathematik. Dies trifft gleichzeitig zu auf das Berechnen von Proportionen und Grössen wie auch auf das Konzipieren von Analogien mit Phänomenen der Natur, Werken der Musik etc..(8)

Im Werk von Fritz Haller lassen sich beide Funktionen der Mathematik auf beispielhafte Weise unterscheiden. Hallers Ruf ist vor allem mit Projekten verbunden, die einer strengen numerischen Kontrolle unterworfen sind: etwa dem modularen Möbelsystem USM-Haller, das ihn weltberühmt gemacht hat, oder den eleganten, standardisierten Bauten in der Tradition von Mies van der Rohe. Diesen beeindruckenden Werken stehen zwei theoretische Arbeiten gegenüber, die ausgerechnet in einem Bereich vollständigster Notwendigkeiten wie der Standardisierung darauf abzielen, die Architektur aus ihren Verstrickungen in die materielle Welt erlösen.

Während Haller als Systembauer zu rechnen gezwungen war, um standardisierte Systeme so effizient wie möglich zu organisieren, sind die beiden Forschungsarbeiten auf "grundsätzliche Probleme" ausgerichtet, die "beim Realisieren von Bauaufgaben (…) nicht hinterfragt werden können". Vielleicht seien sie, so Haller weiter, "nur aus Lust und Neugier" entstanden, "vielleicht auch aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit oder sie sind Spiegelungen von ungestillten Sehnsüchten".(9) Mit andern Worten: die beiden Arbeiten beziehen sich weniger auf technisches Know-How als vielmehr auf Fragen nach dem ' Was' und dem ‚Warum' der Standardisierung.


2 Freiheit im Korsett

Im Sommer 1964 waren seine ersten Stahlbauten bezugsbereit und weitere standen kurz vor der Realisierung. Das USM Haller Möbelsystem hatte zudem bereits Produktionsreife erreicht. All dem kehrte Haller jedoch den Rücken zu, als Konrad Wachsmann ihm eine Forschungsstelle am Institute of Building Research an der University of Southern California angeboten hatte.(10) Bis 1968 verbrachte er jeweils den Sommer in L.A., um an seiner Forschung zu arbeiten.

Unter diesen Umständen wäre es naheliegend gewesen, hätte er ein praktisches Bauproblem für seine Studien gewählt. Stattdessen begab er sich aufs Glatteis abstrakter Beschreibungen geometrischer Probleme, die ihn, wie er selbst einmal einräumte, "etwas aus der Ebene des sogenannten Praktizierens" hinausgeworfen haben.(11)

Die Ergebnisse hielt er in einem Bericht mit dem Titel Von Eigenschaften ausgezeichneter Punkte in regulären geometrischen Systemen fest.(12) Einleitend umreisst er seine Erwartungen wie folgt: "Wenn es gelingen sollte, die Eigenschaften und die gegenseitigen Beziehungen dieser ausgezeichneten Punkte genau zu definieren, so könnte man sich vielleicht räumliche geometrische Systeme als ein Netz von Punkten mit bestimmten Eigenschaften und Beziehungen vorstellen. Es gäbe keine Räume, Flächen und Linien mehr. Diese würden sich alle als Folge der Eigenschaften und Beziehungen der ausgezeichneten Punkte ergeben."(13) In diesem Sinne sind "ausgezeichnete Punkte" nichts anderes als generierende Punkte von "regulären geometrischen Systemen". Haller vergleicht sie mit Atomen, die entsprechend ihrer inneren Struktur unterschiedliche Kraftfelder erzeugen, die die räumliche Anordnung der benachbarten Atome bestimmen.

Abbildung 2: Kohlenstoff-Atomgitter als Analogie für die ausgezeichneten Punkte(aus: Fritz Haller: Von Eigenschaften ausgezeichneter Punkte in regulären geometrischen Systemen, Typoskript, Juli 1967 und Oktober 1968., S. 3)


Kennt man also die Eigenschaften der Punkte, so kennt man auch die Eigenschaften des zugehörigen Systems. Verändert man sie, ändert man auch das Ganze, ohne allerdings dabei dessen Regelmässigkeit zu stören.

Ausgehend von dieser Hypothese wählte Haller einen Würfel, den er in 27 gleich grosse Zellen (3x3x3) unterteilte. Je nach Lage im Würfel und der Anzahl der Linie, die sich in ihnen schneiden, besitzen die 64 "ausgezeichneten Punkte" unterschiedliche Eigenschaften, die einer bestimmten Regel folgen. Betrachtet man jedoch die Punkte als Knoten von Stäben und Platten, scheint alle Gesetzmässigkeit verloren. Genau diesen scheinbaren Unregelmässigkeiten suchte Haller auf die Schliche zu kommen, um eine mathematische Beschreibung zu finden, die auf alle Knoten - und eben nicht bloss auf dimensionslose Punkte - in allen möglichen regulären Systemen anwendbar ist.

Die meiste Zeit verbrachte er damit, Modelle zu bauen. Er war berüchtigt für seinen "Spielzeugladen", in welchem er "ganz einfach tagelang (…) wie ein kleines Kind" spielte.(14) Zuerst baute er Modelle aus papierdünnen Flächen, dann aus Stäben und schliesslich aus Platten. Erfahrungen, die er beim einen Modell machte, liessen ihn neue geometrische Zusammenhänge und neue Analogien zwischen den verschiedenen Modellen entdecken. Dabei war er jedoch nie sicher, ob es sich um eine mathematische Regel oder bloss um einen puren Zufall handelte. Er zweifelte, tastete sich anhand eines neuen Modells weiter, was ihn zu neuen Vermutungen und zu neuen Zweifeln führte.

Die Plattenmodelle waren für Haller von besonderem Interesse, da sich je nachdem, welche Plattentypen er nach welchen Regeln einsetzte, jedes Mal neue Bedingungen für die Knoten ergaben. Haller begann dann auch Modelle dieser Knoten aus jeweils acht (2x2x2) Holzklötzchen zu bauen, die das Zusammentreffen von acht Platten in einem Knoten darstellen. Um deren Eigenschaften besser zu verstehen, führte er einfache mathematische Symbole (+,-) ein, die er als Bewegungsmomente ("spins") von Vektoren interpretierte. Diese erwiesen sich dann auch als nützlich, um die verschiedenen Stab- und Plattenmodelle einander zuzuordnen.

Letztlich aber gelang es nicht, eine exakte mathematische Beschreibung, die für alle Modelle gültig gewesen wäre, vorzulegen.(15) Es blieb bei Vermutungen und einer ganzen Reihe offener Fragen. " So zum Beispiel", fragt Haller in seinem Schlusswort, "wie sehen Vektorendiagramme anderer regulärer Flächensysteme aus (Tetraeder, Oktaeder etc.). Oder bestehen als Folge dieser geometrischen Sprache Möglichkeiten, Computer als Arbeitshilfen beim Lösen von Konstruktionsaufgaben wirkungsvoller einzusetzen u.a.m.."(16)

Statt konkreter Anleitungen für das praktische Bauen gewährt der Bericht wertwolle Einblicke in das, was Hallers Interesse an der Standardisierung vor allem ausmachte. Es ist, als hätte er sich von den Sachzwängen standardisierter Bausysteme und ihren notwendigen, zahlenmässigen Festlegungen befreien wollen, gerade indem er sich umso mehr in das System der Systeme vertiefte, statt sich von ihm zu lösen. Wenn es tatsächlich einen Zusammenhang - oder in den Worten Poincarés: einen gemeinsamen Namen - für alle Knoten in regulären geometrischen Systemen gäbe, dann könnte man beim Konstruieren, ähnlich wie beim Schachspielen, in jedem Punkt zwischen einer Vielfalt von Möglichkeiten wählen. Es war diese "Freiheit im Korsett", und nicht etwa die gewöhnliche "Freiheit vom Korsett" (17) , um die sich Haller so sehr bemühte und die er in den ureigenen Gesetzmässigkeiten der regulären geometrischen Systeme selbst zu finden suchte. Er träumte sozusagen von einem System, in dem sich vollständigste Notwendigkeiten mit der grösstmöglichen Freiheit verbinden liess.


3 Der grosse Rahmen

Der Entscheid, die Arbeit in L.A. unvollendet zu lassen, dürfte Haller etwas leichter gefallen sein, als er bereits seit längerer Zeit an einer zweiten Forschungsarbeit sass. Auch in dieser ging es um "grundsätzliche Probleme" standardisierter Systeme. Während die Arbeit in L.A. von ihren ureigenen Gesetzmässigkeiten handelte, war der Fokus der zweiten Arbeit auf ihre Anwendbarkeit im grossen Stil gerichtet.

Unbeirrbar hielt Haller an der Überzeugung fest, dass die drohende globale Katastrophe im Bauwesen nur dann verhindert werden könne, wenn die Probleme mit den fortschrittlichsten Mitteln, das heisst auf der Basis der industriellen Standardisierung, gelöst werden. Doch eine solche Lösung war bis anhin nicht nur an den allzu künstlerischen Absichten der Architekten gescheitert. Oft fehlte es, wie Haller in seiner praktischen Tätigkeit selbst erfahren musste, schlicht am politischen Willen, die Probleme entsprechend der Logik der Standardisierung anzugehen.

1968 gelangte Haller mit seiner Sicht, wie die Probleme auf der Basis eines standardisierten Systems gelöst werden könnten, an die Öffentlichkeit. Schon der Titel des Buches Total Stadt - ein Modell macht klar, dass für ihn dabei nichts so prägend ist wie die totale Unterwerfung aller Komponenten unter ein streng kalkuliertes Regime. Er schreckte nicht einmal vor der Vorstellung einer durch und durch standardisierten Stadt für 61 Millionen Einwohner zurück. Im Gegenteil: die "totale Stadt" schien ihm gerade der Inbegriff einer standardisierten Lösung zu sein.

Doch warnte er verschiedentlich davor, das Modell der "totalen Stadt" einfach wie ein konventionelles architektonisches Modell zu betrachten. Tatsächlich gleicht es eher Modellen, wie sie etwa in den politischen Wissenschaften eingesetzt werden, insofern es um die Konstruktion von logischen Beziehungen geht und eben gerade nicht um die Gestaltung einer Anlagen mit standardisierten Bauten.(18)

Das Grundelement der totalen Stadt ist ein grosser Wohnblock für 3200 Bewohner. Aus dieser "Einheit erster Ordnung" (e1), die 20-tausendfach wiederholt werden, setzen sich alle Einheiten höherer Ordnung zusammen. Es ist immer die gleiche schematische Struktur, nach der die Einheiten für 120'000, 4,5 Millionen und 61 Millionen Einwohner organisiert sind. Daraus ergibt sich eine fraktale Selbstähnlichkeit der räumlichen Muster auf allen Massstabstufen.

Bemerkenswert ist die grosse Bedeutung, die den "kinetischen Systemen" zukommt. Sie sind auf Distanzen bis zu 20'000 Kilometern ausgelegt. Haller rechnete mit dem Transport von Personen, Gütern und Informationen ebenso wie mit Einrichtungen für Versorgung, Entsorgung und Regenerierung. Er berücksichtigte besondere Aktivitäten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen wie auch Spitzenbelastungen während der täglichen Rush-Hours. Was im Kleinen mit Aufzügen, Rolltreppen und Rollbändern für Fussgänger beginnt, wird im Grossen analog zu "einer gigantischen Achterbahn" aus kreuzungsfreien und hochgestellten Fahrbahnen der Automatenbahnen weitergeführt.(19)

Je mehr Haller sich jedoch mit der Logistik der Infrastruktur beschäftigte, umso mehr kam es ihm vor, als drohte er "in einem immer dichter werdenden Netz von Verknüpfungen zu ertrinken".(20) Schliesslich führte ihn dies dazu, das erste Modell der "totalen Stadt" zu revidieren. Das zweite Modell wurde dann 1975 unter dem leicht veränderten Titel Totale Stadt - ein globales Modell publiziert.

Trotz der Ähnlichkeit des Titels und zahlreicher Überschneidungen weicht die zweite Version in zweierlei Hinsicht doch wesentlich von der ersten ab. Zum einen ist die "totale Stadt" nun für 10 Milliarden Einwohner geplant. Insgesamt bedeckt sie rund einen Vierzigstel der bewohnbaren Landfläche der Erde. Was mit den restlichen, "unbewirteten Gegenden" geschehen soll, bleibt unklar.(21) Nichts was die Menschheit zum Überleben braucht, wird von der "totalen Stadt" ausgeschlossen. Wälder und Seen gehören ebenso dazu wie Erholungsgebiete und Landwirtschaftszonen. Das ganze Leben der Menschheit spielt sich im Bereich der Stadt ab. Die Gegensätze zwischen Land- und Stadtbevölkerung, Natur und Kultur sind aufgehoben. Die Weltbevölkerung wird zu hundert Prozent als städtisch angenommen.

Zweitens erhielt die schematische Struktur der "totalen Stadt" in einem eigenen Kapitel mit der Überschrift "Allgemeines Modell" eine präzisere Formulierung. Einmal mehr begab sich Haller dabei auf das Gebiet geometrischer Beschreibungen. Er ging von einem grossen Quadrat aus und unterteilte es in 49 kleinere Quadrate. Diesen ordnete er je einen Knoten zu, den er die effizienteste Weise mit allen andern Knoten zu verbinden suchte. Er untersuchte Knoten mit 3, 4, 6, 8, 12 und 16 Verbindungen. Die Wahl fiel schliesslich auf den Knoten mit 8 Verbindungen, aus dem das "allgemeine Modell" gebildet wurde. Ein grosser Teil der Studie bestand dann darin, das "allgemeine Modell" mittels Zeitdiagrammen und Kosten-Nutzen-Analysen auf das "spezifische Modell" (2. Kapitel) sowie auf die beiden "konkreten Baupläne" (3. Kapitel) zu übertagen und entsprechend den jeweiligen Bedingungen zu variieren.





Abbildung 3: 49-Quadrat Feld mit Knoten mit 4, 8 und 16 Verbindungen



Doch ausser für exakte Berechnungen war das "allgemeine Modell" jedoch auch noch gut, die Baumasse der Gebäude mit der Kapazität der kinetischen Systeme in Verbindung zu bringen. Insofern erwies sich das Problem der Architektur als ein Kommunikation-Problem zwischen den Bauten. Urbanität wurde mehr zu einer Sache der Vernetztheit statt der Konzentration von Bauten.(22) Ausschlaggebend für Haller war etwa, dass eine Reise von einem Punkt auf der Erde zu jedem anderen weniger als fünf Stunden beansprucht.(23) Zudem sollten alle Einwohner gleichermassen die Möglichkeit besitzen, ihre eigene Stadt innerhalb der totalen Stadt einzurichten. "Der Aussenminister einer Grossmacht lebt in der Stadt ‚Erde' und das Kleinkind in der Stadt ‚Wohnung'", schreibt Haller. Die unterschiedlichen Stadtgrössen sollen einander überlagern, sich gegenseitig überschneiden oder miteinander verflochten sein. "Dieses Netz von Beziehungen soll so angelegt sein, dass es möglichst jeden denkbaren persönlichen Lebensraum anbeiten kann: vom Lebensraum ‚Wohnung' bis zum Lebensraum "Erde'.(24)

Indem Standardisierung und Vernetztheit zusammen gedacht werden, verliert die "totale Stadt" viel von ihren Makel einer unmenschlichen, gleichmachenden Maschine. Das strenge Regime der Standardisierung ist der Preis, den Haller zu bezahlen bereit war für die Möglichkeit, dass die "totale Stadt" zu einer "befreienden Maschine" im Sinne von Pierre Teilhard de Chardin wird.(25) Ebenso wie die Myriaden von Nervenzellen im menschlichen Gehirn das kreative Denken ermöglichen, indem sie sich verbinden, lassen die Verbindungen zwischen den zig-tausend-fach wiederholten, monotonen standardisierten Bauten ein vielfältiges städtischen Leben entstehen.

Überhaupt hat es Haller vielleicht nur wegen Teilhard de Chardin, den er als Philosoph hoch schätzte, gewagt, sein Stadtmodell - gegen alle negativen Konnotationen - "total" zu nennen.(26) "Soziale Totalisation" war für Teilhard das Ziel, auf das die Entwicklung der Menschheit hinauslief. Fortschritt für Fortschritt sind die Menschen daran, die ganze Erde mit einer mechanischen Hülle zu umspannen, die sie immer näher zusammenführt.(27) Nicht ohne Grund zitierte Haller ausführlich aus Teilhards Buch Aufstieg zur Einheit, als er im Nachhinein seine beiden Stadtmodelle zu erklären versuchte: "Unser Blick auf das Leben ist druch den absoluten Schnitt verdunkelt, unmöglich gemacht, den wir immer wieder zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen machen. Weil wir als Prinzip gesetzt haben, dass das Künstliche nichts Natürliches an sich habe (d.h. weil wir nicht gesehen haben, dass das Künstliche humanisertes Natürliches ist), (…) verkennen wir so klare vitale Analogien wie die des Vogels und des Flugzeugs, des Fisches und des Unterseebootes. Unter dem Einfluss desselben und unheilvollen Vorurteils sehen wir seit Jahren, ohne zu begreifen, wie sich vor unseren Augen das erstaunliche System der Land-, See- und Luftwege, der Postverbindungen, Drähte, Kable und Ätherschwingungen bildet, die mit jedem Tag mehr das Angesicht der Erde umspannen. ‚Alles nur geschäftliche oder unterhaltsame Mitteilungen', wiederholt man uns; ‚Herstellung von Nutz- und Handelswegen …' . Keineswegs, sagen wir; vielmehr tiefer greifend als das, Schaffung eines Nervensystems der Menschheit; Erarbeitung eines gemeinsamen Bewusstseins, Verkittung der menschlichen Menge (…). Während wir die Strassen, die Eisenbahnen und das Flugzeug, die Presse, den Rundfunk entwickeln, glauben wir, uns nur zu unterhalten, nur unseren Geschäften nachzugehen oder nur Ideen zu verbreiten… In Wirklichkeit, für einen Blick, der den allgemeinen Plan der menschlichen Bewegungen und den der Bewegungen jedes physischen Organismus miteinander verbindet, setzen wir ganz einfach auf einer höheren Ebene und mit anderen Mitteln die ununterbrochene Arbeit der biologischen Evolution fort."(28)

Aus dieser Sicht ist das Model der "totalen Stadt" mehr als bloss eine nüchterne Hochrechnung technischer Möglichkeiten. Vielmehr musste es erfunden werden, damit das inhärente und unerwartete Potential der Standardisierung konkret anschaulich wird.


4 Die Relevanz der mathematischen Denkweise für die Architektur

In den beiden Forschungsarbeiten, die hier diskutiert wurden, haben wir Haller oft beim Rechnen angetroffen. Doch er begnügte sich dabei nicht mit Kalkulationen eines Systembauers. Er behandelte das ‚Was' und ‚Warum' der Standardisierung ebenso wie das technsiche Know-How. Die Bedeutung der Standardisierung schien ihm nicht weniger eine logische Angelegenheit zu sein wie ihre technische Konstruktion. Nur die Methoden sind andere: im einen Fall ein Kalkulieren von Grössen, im andern Fall aber ein Entdecken und Denken von Analogien.

Just in dem Moment, als das "Projekt der Moderne" von allen Seiten attackiert worden ist, erinnerte Haller in seinen beiden theoretischen Arbeiten daran, dass dieses Projekt nicht zuletzt mit der Herstellung von bedeutungsvollen Verbindungen zwischen dem Kleinsten und dem Grössten, dem Teelöffel und der Stadt, dem ‚objet pour emouvoir' und der Maschinenform, dem Ästhetischen und dem Politischen zu tun hatte. Auf dieser Linie machte Haller weiter und hat nach dem Punkt gesucht, an dem sich vollkommenste Notwendigkeit mit grösstmöglicher Freiheit vereint.

Zu diesem Zweck brauchte er weder auf historische Vorbilder (29) noch biologische Analogien oder irgendwelche andere Metaphern zurückzugreifen. Stattdessen setzte er auf die mathematische Denkweise. Diese verlangt keine Unterwerfung der Architektur unter mathematische Regeln. Vielmehr geht es um rein architektonische Themen, die dank der mathematischen Denkweise präziser gefasst werden und Türen öffnen für noch unbekannte Möglichkeiten.

Betrachtet man Hallers Ansatz aus heutiger Sicht, lässt sich fragen, ob wir das "Projekt der Moderne" vielleicht zu schnell zugunsten von übertriebenen formalen Extravaganzen und überflüssigen historischen Referenzen aufgegeben haben. Jedenfalls hätte der Ansatz der mathematischen Denkweise für etwas mehr Bodenhaftung einer sonst völlig entfesselten Technik gesorgt.


(1) Dank an Marc Angélil, der diese Arbeit gerettet hat.

(2) Max Bill: Die mathematische Denkweise in der Kunst unserer Zeit. In: Eduard Hüttinger: Max Bill. Zürich: ABC-Verlag, 1977, S.105-116.

(3) Auch wenn Speiser von Bill im Text nicht namentlich erwähnt wird, so legt die Ähnlichkeit der Titel doch nahe, dass Bill sich auf das Buch von Speiser bezog hat. Zudem wäre es nicht das erste und letzte Mal, dass er auf diese Weise eine Quelle ‚zitierte'. So spielt Konkrete Kunst (1936) auf Theo van Doesburgs Manifest L'art concret (1930) und Behagen im Kleinstaat (1968) auf Karl Schmids Unbehagen im Kleinstaat (1963) an.

(4)Andreas Speiser: Die mathematische Denkweise in den Geisteswissenschaften und der Kunst. Vortrag in Karlsruhe, 1953. In: Andreas Speiser: Die geistige Arbeit. Bd.9: Wissenschaft und Kultur. Basel u.a.O.: Birkhäuser, 1955, S.198.

(5) Vergl. Brett Steele: "To say mathematics is an integral part of architecture means more than to say that numbers are good for counting." In: Brett Steel: Weapons of the gods. The paradoxical mathematics of contemporary architecture. In: Jane and Mark Burry: The New Mathematics of Architecture. London: Thames & Hudson, 2010, p.6. Dies ist ganz im Sinne der pythagoreischen Auffassung der Mathematik, an die etwa auch Henri Poincaré erinnert, wenn er Mathematik als die Kunst beschreibt, "scheinbar verschiedenen Dingen denselben Namen zu geben. Auch wenn diese Dinge vom Inhalt her verschiedenen sind, so müssen sie doch in die dieselbe Form gegossen werden können." Siehe: Henri Poincaré: Wissenschaft und Methode. Band, 17: Wissenschaft und Hypothese. Leipzig u.a.O.: 1914, S.23. Dazu auch: Jean-Pierre Bourguignon: Getting to Know Mathematicians. In Ausstellungskatalog: Mathematics - A Beautiful Elsewhere. Paris: Fondation Cartier, 2011, p.18.

(6)Für Alain Badiou besteht das Besondere der Mathematik in der Gleichzeitigkeit von "vollständigster Notwendigkeit" und "vollständigster denkerischer Freiheit". Alain Badiou: Das Konzept des Modells. Wien: Turia und Kant, 2009, S.17 (franz: 2007), S.17.

(7)Cédric Villani: Das lebendige Theorem. Frankfurt a.M.: Fischer, 2013, S.207 (franz.: 2012).

(8) Seit Pythagoras regeln Zahlen in der Architektur nicht nur die Verhältnisse unter Bauteilen, vielmehr dienen sie auch dazu, Beziehungen zur Musik und zum Kosmos zu denken. Vergleiche dazu: Friedrich Kittler: Musik und Mathematik. Band 1: Hellas, Teil 1: Aphrodite. München: Wilhelm Fink Verlag, S.214 ff.

(9)Fritz Haller: Bauen und Forschen. Dokumentation der Ausstellung. Solothurn: Kunstmuseum, 1988 (o.S.)

(10)Haller besuchte 1959 einen Kurs von Wachsmann an der Ecole Polytechnique Fédérale Lausanne (EPFL), der von Hans Brechbühler organisiert wurde.

(11)Fritz Haller: Mit EDV zu neuen Planungshilfen, 1981 (gta, 1973-2003 05 189-3(S.6/9)

(12) Fritz Haller: Von Eigenschaften ausgezeichneter Punkte in regulären geometrischen Systemen, Typoskript, Juli 1967 und Oktober 1968. Der erste Teil wurde im Juli 1967 geschrieben und von der Zeitschrift Bauen und Wohnen im November 1967 in einer Kurzfassung publiziert, der zweite im Oktober 1968. Beide Teile wurden dann unter dem Titel Probleme des Fügens, Form-Bewegung-Kräftefluss in überarbeiteter Form wiedergegeben in Fritz Haller: Bauen und Forschen. Dokumentation der Ausstellung. Solothurn: Kunstmuseum, 1988, (o.S.).

(13)Fritz Haller: Von Eigenschaften ausgezeichneter Punkte in regulären geometrischen Systemen, Typoskript, Juli 1967 und Oktober 1968, S.3.

(14)Fritz Haller: Ausgezeichnete Punkte in regulären Systemen, 8. Antrittsvorlesung vom 9-11-1978, Universität Karlsruhe, 9. November 1978, Typoskript, S.8, 11 (GTA: 1979-2002 07 189-3 (S.8/9)

(15)Vergl. dazu: Fritz Haller mit Beatrix Aeschbacher, Therese Beyeler, Kurt Breiter, Christian Müller: Betrachtungen zur Forschungsarbeit von Fritz Hallers Von Eigenschaften ausgezeichneter Punkte in regulären geometrischen Systemen. Dokumentation zum Workshop. Typoskript, 2007. Es gibt zwei praktsiche Auswertungen von Hallers Studie. Zum einen nutzte Mihaly Lenart die Plattenmodelle, um mit Methoden der Gruppentheorie all Kombinationen des Plattenmodells durchzurechnen. Vergl. dazu: Fritz Haller, Mihaly Lenart: On the geometry of orthogonal prefabricated building systems. In: Environment and Planning, 1986 Vol.13, 1, p.63-84. Zum andern fütterten John Bollinger und Xavier Mendosa Hallers den LOM (Location Orientation Manipulator), eine von Wachsmann entwickelte Bewegungsmaschine, mit Modellen von Haller. Vergl.: Thomas Bock, Willi Viktor Lauer: Location Orientation Manipulator by Konrad Wachsmann, John Bollinger and Xavier Mendoza. In: Proceedings of the 27th International Symposium on Automation and Robotics in Construction (ISARC 2010), Bratislava: Juni 2010, p.704-712.

(16)Fritz Haller: Von Eigenschaften ausgezeichneter Punkte in regulären geometrischen Systemen, Typoskript, Juli 1967 und Oktober 1968, S.119

(17)Mit diesem Gegensatz hatte Haller seine eigene Arbeit von der von Günter Behnisch unterschieden. Siehe: Fritz Haller: Rede zur Behnisch-Ausstellung, Berlin 1993 (gta, 1973-2003 05 189-3 (S.6/9). Ebenso kann man darin auch eine programmatische Abgrenzung gegenüber den aufkommenden, formalen Übertreibungen des Computer Aided Design sehen.

(18)Für Elinor Ostrom etwa ist die Entwicklung von Modellen der "Kern der Politikwissenschaft". Vergl.: Elinor Ostrom: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt. Bd.104: Einheit der Geisteswissenschaften. Tübingen: Mohr, 1999, S.31, (engl.: 1990).

(19)Fritz Haller: Totale Stadt - ein Modell. Olten: Walter-Verlag, 1968, S.54.

(20)Fritz Haller: Erinnerung an die Zeit in 150 Jahren. Rede an der Veranstaltung 150 Jahre SIA, Kopf und Maschine aus der Sicht von Wissenschaft, P hilosophie und Architektur , 24.10 1987 (gta:1970-2002 07 189-3(S.8/9)).

(21)Fritz Haller: Totale Stadt - ein globales Modell. Olten: Walter-Verlag, (1975) S.92.

(22)Vergl. dazu : Friedrich Kittler : Eine Stadt ist ein Medium. In: Geburt einer Hauptstadt. Bd.3: Am Horizont. Wien : Edition Buch, 1988, S.507-531. Als erster hat Jean-Jacques Rousseau die Vernetztheit als Kriterium der Stadt beschrieben : "Il n'y a que la Suisse au monde qui présente ce mélange de la nature sauvage et de l'industrie humaine. La Suisse entière n'est pour ainsi dire qu'une grande ville dont les rues larges et longues (…), sont semées de forêts, coupées de montagnes, et dont les maisons éparses et isolées ne communiquent entre elle que par des jardins anglois. In : Jean-Jacques Rousseau: Le Rêveries d'un promeneur solitaire. Septième promenade, Œuvres complètes, t.1. Paris : Gallimard (La Pléiade), p. 1072. Ebenso in einem Brief an M. le Marechal de Luxembourg vom 20 janvier 1763: " ... quoique la Suisse soit en général plus peuplée a proportion que la France, elle a de moins grandes villes et de moins gros villages: en revanche, on y trouve partout des maisons; le village couvre toute la paroisse, et ia ville s'étend sur tout le pays. La Suisse entière est comme une grande ville divisée en treize quartiers ... ". In : Jean-Jacques Rousseau, Lettres, présentation, choix et notes de M. Raymond. Lausanne: La Guilde du livre, 1959, p. 199.

(23)Fritz Haller: Totale Stadt - ein globales Modell. Zweite Studie. Olten: Walter-Verlag, (1975), S.24, 94.

(24)Ebenda, S.9.
(25)Pierre Teilhard de Chardin: Der Glaube an den Menschen. (1949). In: Ders.: Die Zukunft des Menschen. Werke Band 5. Olten u.a.O.: Walter-Verlag, 1963, S.221.

(26)"Teilhard de Chardin war der Karl Marx für uns." In: Fritz Haller im Gespräch mit Jan Krause. In: AIT, Oktober 1997, S.74-77 (gta: 1970-2002 07 189-3(S.8/9).

(27)Pierre Teilhard de Chardin: Der Glaube an den Frieden (1947). In: Pierre Teilhard de Chardin: Die Zukunft des Menschen. Werke Bd.5. Olten: Walter-Verlag, 1963, S.230.

(28) Fritz Haller: Erinnerung an die Zeit in 150 Jahren. Rede an der Veranstaltung 150 Jahre SIA, Kopf und Maschine aus der Sicht von Wissenschaft, Philosophie und Architektur , 24.10 1987 (gta:1970-2002 07 189-3(S.8/9). Das Zitat stammt aus: Pierre Teilhard de Chardin: Aufstieg zur Einheit: Die Zukunft der menschlichen Evolution. Hrsgg. Von Lorenz Häfliger. Wien: Buchgemeinschaft Donauland, 1974, S.228,229. Es ist nicht überraschend, dass Teilhards Denken gerade auch im Zusammenhang mit der Entstehung eines Internets der Dinge wieder neu entdeckt wird.

(29)Haller erwähnt im Zusammenhang mit den Modellen der "totalen Stadt" zwar historische Vorbilder , bezeichnet sie jedoch als "Alibi". Vergl.: Fritz Haller: Ausgezeichnete Punkte in regulären Systemen, 8. Antrittsvorlesung vom 9-11-1978, Universität Karlsruhe, 9. November 1978, Typoskript, S.8, 11 (GTA: 1979-2002 07 189-3 (S.8/9)






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